6. Oktober 2018 (Auszug)


Nach langem Hin und Her konnte ich Hanna zu einem Treffen überreden. Es war angenehm warm, und wir saßen im Café Prückel im Schanigarten.
»Sie müssen zahlen! Damit das klar ist!«, begrüßte sie mich. »In der Bibliothek haben die mir das Taschengeld gestrichen, ich meine, geht’s noch, hallo?«
Auch im Tageslicht war es nicht einfacher, ihr Alter zu schätzen. Ihrem Gesicht war jeglicher Mut abhanden gekommen, das geschah bei Frauen üblicherweise in den 40ern, aber ihre Worte waren die einer 13-Jährigen.

»Was gibt es denn überhaupt noch zu fragen? Wozu brauchen Sie mich noch? Ich habe Ihnen die Bilder schon gezeigt. Ich sag’s gleich, mein Handy haben die abkassiert. Das liegt jetzt in einer Lade der Bibliotheksleiterin. Weil Sie mich so laut anrufen mussten. Ich verlier echt langsam die Geduld mit euch Männern. Passen Sie auf, ich gebe Ihnen drei Fragen. Drei Fragen, mehr beantworte ich Ihnen nicht. Wenn da nicht dabei ist, was Sie wissen wollen – Pech gehabt!«
»Dann ist aber meine erste Frage, dass ich mir hundert Fragen wünsche. So!«
»Uh, okay …« Hannas Gesicht versteinerte. »Touché! Da haben Sie mich aber schnell ausgetrickst. Na gut, aber machen Sie rasch!«
»Der Tanz in Strasbourg, was ist damit?«
»Das war eine Massenhysterie, hm, ja, was denken Sie? Die Leute waren am Ende, sie hatten Dürren, Pestausbrüche, Hungersnöte hinter sich, die Kirchen und Fürsten haben sie bis aufs letzte Hemd ausgepresst. Ihnen steckten die Schulden bis zum Hals, was, oh was hatten sie verbrochen, dass Gott sie so bestrafte, und dann drehten sie durch. Sie tanzten. Ja, also, es gab schon früher immer wieder Berichte über Menschen, die sich spontan zusammenrotteten, um zu tanzen, aber keiner dieser Fälle ist so gut dokumentiert wie der seltsame Ausbruch im Strasbourg von 1518. Es ist sogar so, dass man genau sagen kann, wie alles begann. Eines Morgens geht eine Frau, Name gibt es, habe ich aber vergessen, vor die Haustür und beginnt zu tanzen. Sie hört nicht auf. Den ganzen Tag ruckelt sie und zuckelt sie. Irgendwann fällt sie in ihr Bett und schläft vor Erschöpfung ein. Ihr Mann ist beruhigt. Hat der Spuk ein Ende? Hat er nicht. In der Früh zappeln ihr schon wieder die Beine im Bett. Sie springt auf, rennt vor die Tür und beginnt weiterzutanzen. Den ganzen Tag tanzt sie. Ihr Mann kann gar nichts machen. Sie gehorcht nicht. Sie hört ihm nicht zu. Sie hört nicht auf. Wieder bis sie zu später Dunkelheit vor Erschöpfung einschläft. Am nächsten Morgen dasselbe. Rappel, rappel, zappel, zappel! Und sie steht vor der Tür und tanzt. Das geht den nächsten Tag und den übernächsten. Das Tanzen nimmt kein Ende. Leute kommen vorbei und starren. Sie zeigen mit dem Finger. Es spricht sich herum. Mehr Leute. Mehr Starren. Sie wird eine Berühmtheit. Die Leute sind neugierig. Ist die Frau etwas Großem auf der Spur? Hat sie etwa recht? Ist es ein guter Weg, dem Zorn Gottes zu entgehen? Manch einer tanzt mit, manch anderer auch, dann kommt ein Dritter dazu und tanzt. Und schon sieht es aus wie die beste Idee. Immer mehr schließen sich der Tänzerin an und tanzen mit. Sie tanzen, ohne Musik, bis es Nacht wird, bis die Erschöpfung zuschlägt, bis die Schuhe zerfetzt sind, bis die Sohlen bluten. Nun kommen aus der Umgebung immer mehr Leute dazu, um zu tanzen. Es spricht sich herum. Die Priester werden neugierig. Was sollen sie tun? Ist es etwas, das gegen Gott gerichtet ist und verboten? Oder ist es etwas Gottgewolltes und die Tanzenden sind gut gegen weiteres Unheil, das der Himmel schickte? Sind die Tänzer von Dämonen in Besitz genommen oder schütteln sie diese gerade ab? Bald sind es dreißig Tänzer, bald hundert, nach einem Monat sind bereits vierhundert Leute am Tanzen. Das Tanzen steckt an. Noch ein Ei, bitte! Niemand weiß, wie man der Ausbreitung Herr werden kann. In Häusern, in Festhallen, auf Plätzen in ganz Strasbourg wird getanzt. Die Ärzte denken, es handle sich um einen Fall von heißem Blut und durch das Tanzen werde es aus dem Körper entfernt. So unterstützen sie die Tänzer in ihrem Wahn. Man baut Tribünen und heuert Musiker an. Nun beginnen die ersten Leute vor Erschöpfung zu sterben. Sie legen sich in das nächste Stroh und hören auf zu atmen. Mitten im Tanz strecken sie die Arme aus und fallen hin. Zunge raus, Leben aus. Die Leute sterben wie die Fliegen. Überhitzt, ausgetrocknet, komplett erschöpft. Sie versuchen die Tänzer in einem alten Rathaus zusammenzuführen und dort für sie zu sorgen, aber es gelingt nicht. Nach fast zwei Monaten hört es auf. Verwirrt kehren die Tänzer und Tänzerinnen wieder in die Realität zurück. Körperlich geschädigt, geistig angeschlagen. Mit blutgeschundenen Sohlen. Das war der berühmte Tanz in Strasbourg.«
Ich entschuldigte mich für einen Moment. Während Hanna mit kantiger Gestik die Geschichte zusammengefasst hatte, hatte sie überraschend noch ein Ei bestellt. Das war nicht abgemacht. Auf dem Weg zur Toilette nahm ich den Kellner zur Seite und bestellte das Ei wieder ab. Kein Problem, sagte der Kellner, er habe sich – ganz im Vertrauen – so etwas schon gedacht.
Zurück am Platz, empfahl mir Hanna noch ein Buch des Historikers John Waller: A Time to dance, a Time to die, das diese Randnotiz in der Geschichte des Mittelalters detailreich aufarbeitete.
»Und wie kommt Brueghels Mutter hier ins Spiel?«, fragte ich. »War sie die Vortänzerin?«
»Sie passen ja gar nicht auf. Wenn das mal Karine hört! Marth Brueghel hat die ganze Episode gemalt, gezeichnet, dokumentiert, von den ersten Tagen an, als die Frau noch allein tanzte, bis zur tagelangen Prozession in die Kapelle von Sankt Vitus. Hätte es Marth Brueghel nicht gegeben, wäre das alles bald wieder vergessen gewesen. So diente ihr Buch als Forschungsgrundlage für viele Geistliche und Ärzte, sogar Paracelsus hat es erwähnt.«
Paracelsus, ha! Natürlich musste dieser Säulenheilige aller Quacksalber und esoterischen Brotbirnen hier einen Gastauftritt haben, es wäre ja gelacht.
»Wer die Bilder sieht, weiß, woher Brueghel sein Talent hatte. Womöglich waren überhaupt all seine Bilder von seiner Mutter, wer weiß, und er hat sie nach und nach unter seinem Namen veröffentlicht?! Weil er als Mann einfach der bessere brand war. So zumindest vermuten es manche.«
»Mhm, wer sind denn diese manche?«
»Na ich und Britta! Wenn man mal alle wissenschaftlichen Denkverbote beiseite lässt, ist das auch die einzig logische Möglichkeit, so arg wie den Frauen immer mitgespielt wird. Britta vermutet, dass Pieter Coecke van Aelst dahintersteckt. Der flämische Kunstmaler, der Brueghel ausgebildet hat, hat Marth Brueghel in ein Narrenhaus stecken lassen, aus Angst, dass sie alles kaputt macht. Weibliche Malerei galt damals bei nicht wenigen als Hexerei, Sie wissen schon, Menstruation und so.«

Beim Verabschieden versuchte Hanna mich noch davon zu überzeugen, ihr eine Nintendo-Switch-Konsole zu kaufen, um ein Exempel gegen den Rechtsruck zu statuieren. Ich teilte ihr mit, was ich von der Idee hielt. Sie zischte und murmelte, sie kniff ihre Augen zusammen, wir verabschiedeten uns.