Innerhalb von zwei Wochen war Franz wieder dort angekommen, wo er gestartet war. Statt Lachsgulasch auf der Veranda der Staatsoper zu schmausen, schälte er sich wieder verschämt ein Ei auf dem Parkplatz hinter dem Supermarkt und löffelte dazu Zwiebeln aus dem Elsass aus der Dose.
»Was ist bloß mit mir passiert?« Er stützte seinen Kopf in seine Hände, massierte seine Glatze mit großen schwammigen Bewegungen. Dann hielt er die Hände vors Gesicht und starrte sie mit großen Augen an. »Was sind das für fleischige Ungestalten, die mir nur Pech und Schwefel bringen? Was habe ich getan, dass ich aus all den Gabelungen, die sich vor mir auftun, mit hellseherischer Gewissheit den Weg wähle, der mir den Hals noch weiter zuschnürt und mich in meinem Elend baumeln lässt?«
Es war sinnlos. Ich faltete die Zeitung zusammen, noch bevor ich den Artikel zu Ende gelesen hatte, und legte sie auf den Küchentisch.
»Ich habe Schulden, Bruno, und erstmals in meinem Leben habe ich Feinde, die bereit sind, mir mit der Faust auf den Schädel zu schlagen.«
Was war geschehen? Nach einem Symposium über die Philosophie des Kalten Kriegs, bei dem Bruno als Einziger nicht die Gelegenheit ergriff, die Zustände der feindseligen Übernahme der Krim anzuprangern, ganz einfach, weil er seit Jahren keine Zeitung mehr gelesen hatte und sich nicht so genau auskannte, war er von einem russischen Kommunikationswissenschaftler, der sich seit Jahren in Wien aufhielt, angesprochen worden, ob er nicht im Rahmen eines Think Tanks zur Pflege der russisch-europäischen Gesprächskultur eine gutbezahlte leitende Rolle übernehmen wolle. Nichts liebte Franz zeit seines Lebens mehr, als gut bezahlt zu sein, also sagte er ohne großes Nachdenken auf der Stelle zu.
Nach wenigen Tagen, in denen man der lieben Ordnung willen um den heißen Brei herumgeredet und ganz allgemein die Veränderungen und nationalen Unterschiede bei der Verwendung neuer digitaler Kommunikationsformen besprochen hatte, kam der Russe auf den Punkt: Franz solle ein Büro von etwa 20 Journalisten leiten, die in den Foren der Tageszeitungen, in Blogs wichtiger Meinungsmacher und in den gängigsten Social-Media-Plattformen immer dann, wenn ein kritischer Blickwinkel auf Putin und seine Regierungsgeschäfte geworfen würde, mit mehreren Kommentaren für eine Gegensicht sorgen. Diese Kommentare sollten formal sachlich erscheinen, inhaltlich ginge es aber um eine rabiate Umdeutung des Diskurses, um das Streuen von Zweifeln und in weiterer Folge um die generelle Diskreditierung der einzelnen Medien.
Jeden Morgen traf man sich um 8 Uhr zu einer Redaktionssitzung in einem Palais im ersten Bezirk, wo man die aktuellen Geschehnisse besprach und Argumente vorbereitete. Gab es einen schwer zu argumentierenden militärischen Eingriff, so wurde in den Geschichtsbüchern nach einem ähnlichen Vorgehen von westlicher Seite geforscht – bis zu 800 Jahre durfte man hier zurückgehen –, mit der man dann jede Art von Kritik als Heuchelei entlarven konnte. Bruno sollte die Journalisten leiten. Er sollte für den richtigen intellektuellen Tonfall sorgen, für die Einhaltung rhetorischer Beweisketten, schlicht für einen guten Sound dieser Einwände.
Das ging anfangs recht gut. Bruno war von Putin begeistert, denn diese Begeisterung wurde ihm fürstlich bezahlt. Lange genug hatte Bruno im Hochschulwesen gearbeitet, um den untergriffigen Ton unbegrenzt reproduzieren zu können. Auch die Journalisten waren von großem Eifer ergriffen, der daher rührte, dass sie durch die Bank geschieden waren und arbeitslos und die Kurse beim Arbeitsmarkt-Service schlichtweg satthatten.
Mit derselben schäbigen List, mit der mir Franz früher auf subtile Weise Schuldgefühle einjagen wollte, weil ich ihm kein Geld / zu wenig Geld geben wollte oder einem Schuldenerlass humorlos gegenüberstand, riss er schnell jegliche Themenherrschaft auf den Kommentarseiten der Feuilletons an sich und sein Team, das unter verschiedenen Pseudonymen locker eine Hundertschaft von erregten Diskutanten simulieren konnte. Sei Putin wirklich so viel schlimmer als andere Staatsmänner? Habe ein entlassener Arbeiter in einer Fabrik nicht ebenso wenig Einfluss auf die Politik der EU wie ein russischer Wodkabauer, aber würde dieser Wodkabauer nicht warmherziger geliebt, denn wie solle eine so kalte bürokratische Maschine wie die Europäische Union so etwas wie Gefühle haben? Das sei doch lächerlich. Aber Putin, das sei ein Mensch, vielleicht mit Schwächen, vielleicht mit Fehlern, aber dann doch den, dass er seine Leute zu sehr liebte und zu stark reagierte, wenn er die russischen Mütterchen bedroht sah. Und brauchte die Welt nicht gerade jetzt jemanden, der die Russen mit starker Hand vereinen konnte? Was wäre denn, wenn ein weicher Zweifler das Ruder in die Hand nähme? Es würde ihn zerreißen, die internen russischen Machtblöcke würden ihn zerstören und jagen wie eine nach Fleisch riechende Rostbüchse, die man in einen Hundezwinger geworfen hatte. Und zeige die westliche Welt nicht, wohin es führe, wenn man Karl Marx ignoriert und die Reichen tun und lassen lässt, wie sie wollen? Und so weiter. Und so fort. Dies alles in verschiedenen Schreibstilen und Tonalitäten.
Mutter Russland war hochzufrieden. Und auch Franz war hochzufrieden, denn seit Langem hatte er keine solch positive Resonanz mehr bekommen. Die Stelle in seiner da war, um vor Stolz anzuschwellen, war lange Jahre wie ausgetrocknet gewesen, und plötzlich pulsierte da wieder das warme Blut. Nach seinem zweiten Arbeitstag musste sich Franz am Heimweg an einer Laterne festhalten, weil er nichts mehr sehen konnte, so sehr flossen ihm die Tränen aus den Augen. Und die vielen Reaktionen! Nie hatte Franz mit seinen eigenen Thesen so viel Wirbel erzeugt. Die Leute knirschten mit den Zähnen vor Wut und geiferten in alle Richtungen. Doch was nützte es ihnen? Franzens Propagandawalze aus hunderten Stimmen machte sie einfach platt. Wurden eigentlich noch Orden verteilt in Russland? War es nicht bald an der Zeit, dass Franz inmitten eines kreischenden Militärorchesters auf ein Podest stieg, um sich eine Medaille ans Revers heften zu lassen? Ein Pistolenschuss, der den Applaus einleitete, wäre nett, und ein daraufhin in den Himmel entfliegender Schwarm an Tauben, die die Freiheit des Wortes symbolisierten – war das nicht angemessen ob der Tollheit von Franz?
Seine Geschäfte liefen gut. Das an und für sich schon sehr ansehnliche Gehalt wurde mit zahlreichen Prämien verschönert. Franz war begeistert. Offensichtlich hatte er in wenigen Tagen die Erwartungen, die man in ihn gesetzt hat, mehr als erfüllt, was sollte es da schon groß schaden, wenn man ein klein bisschen des ihm zur Verfügung stehenden Apparates dafür nutzte, um da und dort die Leute darüber aufzuklären, was sich wirklich hinter der sympathischen Maske des Sir Peter Ustinov verbarg? Erst war es nur ein Halbsatz hier, ein Halbsatz da, eine kleine Spitze nur in einem Meer von putinfreundlichen Bemerkungen. Franz legte durchaus beachtliche Kreativität an den Tag, wenn es darum ging, Sir Peter Ustinov als warnendes Beispiel zu etablieren, als verweichlichten übergewichtigen Gegenpol gegen die raue russische Durchsetzungskraft. Hätte der fette Sir, wie ihn Franz nannte, gegen die Schüler der besten chinesischen Kampfschule bestehen können? Müsste er diese Frage wirklich beantworten?
Wäre es bloß dabei geblieben. Es lief doch alles so gut. Der russische Kommunikationsberater gratulierte ihm. Er schüttelte Franz mit beiden Händen die Hände, streichelte seine Wange und küsste seine Stirn. Franz wurde gelobt, denn die Herabsetzung von Sir Peter Ustinov hatte einen wohltuenden Nebeneffekt. In den Schreibabteilungen der um Meinungshoheit konkurrierenden PR-Abteilungen der NATO, der CIA und wer auch immer noch sich ins Gefecht geworfen hatte, war man verwirrt. Was war das für eine seltsame Chiffre? Wurde hier klammheimlich eine Kommunikationsbombe aufgebaut, die erst in vielen Jahren zünden sollte? Man wollte das Gebiet der Sir-Peter-Ustinov-Forschung nicht kampflos den Russen überlassen. Und so kam es, das, sobald auf einer Website ein Artikel stand, in dem über Wladimir Putin berichtet wurde, in den Foren darunter ein heißes Gefecht um die Ehre des britischen Schauspielers entflammte. Der eigentlich heiß begehrte Kontext, nämlich der gefinkelt verwobene Spin, mit dem die militärischen Winkelzüge schöngeredet und vor allem als unausweichlich und unbedingt notwendig für das Wohl von Europa und als letzte Bastion gegen den Untergang präsentiert wurden, geriet immer stärker in den Hintergrund.
Schlussendlich wurde Wladimir Putin mit keiner Silbe mehr erwähnt. Franz hatte mit seinem Eifer die Mitarbeiter der Schreibstube angesteckt. Sie fuhren hinaus in die Welt und recherchierten, indem sie überlebende Bekannte befragten, Tagebücher von verstorbenen Freunden kopierten und, in letzter Verzweiflung, Gästebücher von Hotels, in denen Sir Peter Ustinov abgestiegen war, auf schmutzige Hinweise durchsuchten. Die größte Energie wurde allerdings auf die rechtliche Recherche verwendet, wie es möglich wäre, einem Verstorbenen den von der Königin von England höchstpersönlich verliehenen Adelstitel wieder abzuerkennen.
Dies alles auf Kosten des russischen Think Tanks und – mittlerweile – ohne jeglichen verwertbaren Nutzen für die putinsche Sache.
Aus dem Händeschütteln wurde ein schmerzhaftes, die Knochen zum Klingen bringendes Drücken, aus dem Tätscheln der Wange eine heftige Watsche und statt der Küsse auf die Stirn gab es Nüsse auf den Hinterkopf. Das Budget wurde gekürzt, halbiert, schließlich eingefroren und geprüft. Man hatte nicht lange prüfen müssen, um den Großteil von Franz’ Ausgaben als vertragswidrig, ja, als einklagbar zu identifizieren. Was für ein Pech, dass gerade jetzt die Ölgeschäfte so schlecht liefen, sonst hätte man das eine oder andere Auge zudrücken können, nichts liebe das russische Volk mehr als einen verblendeten Narren, der sich in seiner Leidenschaft verrannte, aber so stellte man Franz in Aussicht, entweder die ihm überwiesenen Gehälter wieder zurückzuüberweisen oder die ihm überwiesenen Gehälter wieder zurückzuüberweisen – sehr viel mehr Alternativen gäbe es da leider nicht.
Franz hatte seine Geschichte beendet und massierte seine Stirn. Selbst Baxter sah mitleidig von seinem Körbchen her und hatte glänzende Augen.
»Ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht«, sagte er. »Jede Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe, hat mich einen Schritt weiter weg von Erfolg und Lebensglück gebracht. Einen Schritt näher an den Abgrund getrieben. Ich bin der Letzte, der die Gewalt haben sollte, über mein weiteres Leben zu entscheiden. Nicht ich, sondern Dostojewski soll mir helfen, den Weg aus diesem Morast an Scham und Niederlage herauszufinden. Bruno, wann hast du das letzte Mal Die Gebrüder Karamasow gelesen?«
Da musste ich kurz überlegen, aber Franz war an einer Antwort gar nicht interessiert.
»Aber du solltest es wieder lesen«, fuhr er fort. »Auch ich blättere immer wieder darin, wenn ich Trost suche. Was mich am meisten daran fasziniert, ist der Starez Sosima, ich liebe diese Figur, ich verehre das Konzept dieser Figur. Vielleicht ist dieser Starez der schönste Charakter in der Weltliteratur. Nicht sein Gesicht, obwohl ich mir das auch wunderschön vorstelle, sondern sein Wesen. Aber was macht diesen Starez so vorbildlich, so verehrungswürdig? Er übernimmt Verantwortung. Er übernimmt Verantwortung für andere. Zu ihm können die Menschen gehen, wenn sie es leid sind, mit ihren angeborenen Impulsen weiterhin gegen die Wand zu rennen, und sie rufen aus: ›O heiliger Starez, bestimme über mich. Befehlige mich, ich will alles tun, was du sagst.‹ Und dieser Starez Sosima – verweigert er sich, murmelt er beleidigt vor sich hin oder macht sonst irgendwelche Fisimatenten? Nein, er bedankt sich beim Herrgott für die weiteren Aufgaben und nimmt die Herausforderung an. Ich könnte weinen vor so viel Menschlichkeit, vor so viel Herzenswärme. Dostojewski ist ein wahrer Könner, er ...«
»Der Starez ist also wie Mario aus Emmanuelle?«
»Wa–? Bitte?«
»Na, Emmanuelle, diese lebenslustige junge Dame aus der Filmreihe aus den 70er Jahren. Sie besucht ihren Mann in Bangkok und bumst alles, was sich ihr in den Weg stellt.«
»Aha«, sagte Franz.
Ich hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Mit seiner rechten Hand tastete er nervös nach seiner Brille. »Also, er ist recht schön gemacht für einen Softporno. Die Kulisse ist aufwendig. Exotischer Quatsch, aber irgendwie hat es was. Na ja, und sie führt mit ihrem Mann eine offene Ehe, und das findet sie einerseits gut, weil sie die tollsten sinnlichen Erfahrungen macht, aber andererseits knabbert es auch ordentlich an ihr, es kränkt sie, weil sie seiner nicht habhaft werden kann. Der Film erzählt von ihrer Reifewerdung, sie verwandelt sich von einem naiven Mädchen, das die Lüste nimmt, wie sie ihr zufallen, zu einer selbstbewussten Frau, die ihre erotischen Begierden auslotet und sich Erfahrungen hingibt, die sie zu einer neuen Person machen. Sie erstarkt durch ihre Triebe. Aber wie schafft sie den Höhepunkt der Emanzipation, wie gelingt es ihr, all diese Abhängigkeiten über Bord zu werfen?«
Franz brummelte nur. Mittlerweile hatte er seine Brille wieder gefunden und sich aufgesetzt. Er blickte mich aus großen traurigen Augen an. »Nun?«
»Durch Mario, einen alten Lustgreis, der ihr vorgibt, wann sie wen und wie zu ficken hat. Ein schmutziger Kutscher, er heuert Minderjährige an, die durch Drogen betäubte Emanuelle gegen ihren Willen ranzunehmen, er setzt sie als Belohnung aus für notgeile Boxer! Das ist ihre Emanzipation!«
»Na ja, aber der Starez ... Dostojewski ... Die Weltliteratur!«
»Na gut, da kann man auch sagen, das waren halt die 70er Jahre, da war ein Orgasmus wichtiger als jede Frauenbewegung.«
Franz räusperte sich, als ob er etwas sagen wollte, aber dann schwieg er nur und knetete seine Hände, bevor er mit zittriger Stimme sagte: »Ich fürchte mich so vor den Frauen, Bruno!«
»Und die Frauen fürchten sich vor dir, Franz, so kommst du nicht weiter.«
»Ich habe erkannt, dass ich aus eigener Erfahrung mein Leben nicht meistern kann. In mir lodert eine Angst, Bruno, die Angst zu gewinnen. Ich brauche einen Starez, Bruno, ich brauche jemanden, der sein Leben gemeistert hat und der mich mit einer kalten grausamen Klarheit sieht und mir vorgibt, was ich zu tun habe. Ich brauche eine schöne Person wie den Starez Sosima. Mit anderen Worten, ich brauche dich! Wie du mir vor wenigen Wochen das Bein gestellt und mich unter die Dusche gezwungen hast! Das hat mir die Augen geöffnet und ich war für einen kurzen Augenblick empfänglich geworden für das Glück, für das Schöne, für den guten Zufall. Mein Fehler war nur, wieder damit aufzuhören, auf dich zu hören. Ohne strenge Hand entgleitet mir alles. Sag mir, was ich tun soll, um nicht die letzten Blüten meiner Lebensjahre verwelken zu sehen. Was soll ich machen? Wie soll ich mich verhalten? Wie komme ich hier wieder raus? Magst du mein Leben in die Hand nehmen?«
Ich hatte einen Verdacht. »Damit sind aber keine finanziellen Verpflichtungen verbunden, oder? Ich meine, ich muss dann nicht für all deine Kosten aufkommen?«
Franz blickte aufgeregt um sich. Ich hatte ins Schwarze getroffen. »Was? Nein! Wie kommst du darauf? Daran habe ich ... keine Sekunde ... gedacht. Was hältst du ... Nein!«
Es war ein Trauerspiel, Franz dabei zuzusehen, wie er sich wand. Natürlich wäre es darauf hinausgelaufen, aber jetzt hatte ich ihm diesen Trumpf vorzeitig aus der Hand genommen. »Wenn es doch bloß nur um Geld ginge, Bruno, dann würde ich dankend deine Hilfe annehmen, das Geld einstecken und meine bedrückenden Schulden bezahlen. So aber muss ich ablehnen, ich brauche Hilfe, eine Art spirituelle Hilfe, die mich erlöst, aber nicht auf katholische oder buddhistische Weise. Was ich brauche, ist ein beseelter Agnostizismus, der mit Schärfe mein Leben einteilt. Sag mir doch, Bruno, was soll ich tun?«
»Ich soll dein Mario sein?«
»Nein, ich brauche doch niemanden, der mir aufzwingt, mit wem ich zu ficken habe.«
»Na ja, da müsste man wohl mehr als eine Person zwingen. Aber dieser Mario ist ein interessanter Charakter. Weißt du, sie haben sogar versucht, diesen Charakter in einem Spin-off der Emmanuelle-Reihe weiterleben zu lassen. Das war in den frühen 80er Jahren, als sie einen Film drehten, in dem er die Hauptrolle spielte. Sie hatten dann aber doch die Rechte nicht bekommen, so mussten sie die Figur kurzfristig umtaufen, in Marco! Und es ging auch nicht mehr um Emmanuelle. Sondern um einen ähnlichen Charakter, eine junge Frau namens Sensuella. Sensuella war auf der Suche nach der totalen Erleuchtung. Sie hatte schon mit ein paar Männern geschlafen, aber es gefiel ihr bestenfalls gut, nie war sie in jene Art von Ekstase geraten, von der manche ihrer Freundinnen so begeistert schwärmten. Auf einer Party wird ihr Marco vorgestellt, der ihr gleich ihre sexuellen Wünsche von den blauen Augen ablesen kann. Aber der Schauspieler ist mittlerweile halb erblindet, er trägt eine Brille, dick, rund und groß, und er geht wacklig mit zwei Gehstöcken. Aber noch immer ist er überzeugt von den Lehren seiner dekadenten Lust! Er bringt Sensuella dazu, sich reihenweise flachlegen zu lassen. Von Fischern, Hahnenkampf-Veranstaltern, von einer schwarzen Medizinfrau. Aber, und das ist das Interessante, man sieht deutlich, wie sehr sich die Zeiten geändert haben, denn Sensuella, glücklich über jeden erreichten Orgasmus, einer größer und verstörender als der andere, genügt es nicht mehr, sich zu unterwerfen. Die Unterwerfung ist nur ein kleiner Zwischenschritt auf dem Weg zur Werdung einer kompletten Frau. In der Mitte des Films dreht sie den Spieß um und bestimmt fortan über das Sexualleben ihres Meisters. Gelingt ihr das durch ihr mittlerweile außergewöhnliches Charisma? Jein – hauptsächlich übernimmt sie die Kontrolle dadurch, dass sie Marcos Brille klaut. Ohne diese sieht der alte Mann nur Schemen und ist in seinem Dasein gehörig eingeschränkt. Auch ist die Brille eine teure Spezialanfertigung, die optimetrischen Details erspare ich dir jetzt, aber lass dir gesagt sein, es ist nicht so einfach für Marco, diese Brille erneut anfertigen zu lassen. So erklärt es sich, dass er sich in Sensuellas Machtergreifung fügt und ihre sexuellen Fantasien auslebt. Er fickt mit einer dicken alten Frau im Bus, er lässt sich von einem Jahrmarktverkäufer den Saft einer überreifen Kokosnuss aus dem Arsch lecken, er lutscht eine junge Studentin, die ihn watscht, und er übernachtet in einer wunderschönen Sternennacht in einer Hundehütte mit zwei sichtlich erigierten Rottweilern. Am Ende ist er gebrochen, verzweifelt und winselt Sensuella um Gnade an. Aber Sensuella ist längst nicht mehr hier. Auf einem Luxusdampfer fährt sie Richtung Sizilien und wirft Marcos Brille über Bord. Ein interessanter Film, der nur etwas unter seinem geringen Budget leidet.«
»Warum erzählst du mir das, Bruno? Ist das schon ein erster Test, den ich bestehen muss? Soll ich mir eine neue Brille kaufen?« Er legte seine Brille auf den Tisch und drohte an, sie mit seiner Faust zu zerschmettern. Blitzschnell griff ich zu und brachte sie in Sicherheit. Er blickte meiner Hand, die die Brille auf einem Serviertischchen ablegte, beleidigt hinterher.
»Du verhöhnst mich doch nur, Bruno, und das trifft mich tief ins Herz. Du machst dich über mich lustig, dabei ist es mein bitterster Ernst. Ich brauche dich jetzt, wie ich noch nie jemanden gebraucht habe. Ich habe das jetzt verstanden ... das war die erste Stufe meiner Erkenntnis ... der erste Schritt aus meinem Lebenssumpf. Während du dein Leben gemeistert hast, mit Leichtigkeit jedem Schmerz ausgewichen bist, habe ich mein Sein an die Wand gefahren. Du musst auch nichts machen. Nur sag mir, was ich tun soll. Sag es mir heute und sag es mir morgen. Ich lege mein Leben in deine Hand.« Franz ging auf meine Seite des Tischs, kniete nieder und küsste meinen Oberschenkel.
»Ich habe keine Ahnung, was ich dir sagen soll.«
Franz ließ sich nach hinten auf den Teppich fallen und streckte die Arme aus. Er wälzte sich wimmernd hin und her und schluchzte: »Was soll ich tun, Bruno? Sag mir doch, was ich tun soll!«
Es war eine gefährliche Situation für mich. Nur zu gerne hätte ich das Angebot angenommen. Schon hatte sich meine sadistische Ader geregt und die Möglichkeiten von allen Seiten geprüft. Franz spielte es mir nicht vor, er war tatsächlich hochverzweifelt. Er war in einer schwer gebeutelten Stimmung, er war zusammengebrochen, sicherlich würde diese Finsternis eine gute Woche anhalten. Eine Woche, in der ich ihm – wie von ihm angeboten – alles befehlen konnte, was mir in den Kopf schoss. Mit größtem Vergnügen hätte ich das auch gemacht.
Als Erstes hätte ich ihn vielleicht vier Stunden barfuß auf Körnern und Dornen stehen lassen, dann auf allen vieren durch das Café Landtmann robben, mit einem Sattel auf seinem Rücken und in dem Sattel: ich, und in meiner Hand hätte ich ein Foto von einer schönen schwarzen Stute hochgehalten und wütend hätte ich gebrüllt: »Warum bist du nicht so schön wie dieses Pferd! Warum bist du nicht so gut wie dieses Pferd!« Ich hätte ihn gezwungen, mit nacktem Oberkörper all seine Ex-Freundinnen aufzusuchen und sich von ihnen ein Tattoo ihrer Wahl stechen zu lassen. Ich hätte ihm befohlen, sich einen Tag lang im Park nur in einem bestimmten Busch aufzuhalten. Einen Kartoffelsack, gefüllt mit Wolle, als Kommandanten anzusprechen und überallhin mitzunehmen. Wie Giftpilze schossen diese borstigen Ideen aus mir, es bedurfte keinerlei Anstrengungen, es schien mir, als könnte ich in die Luft greifen und hätte genügend Ideen, um ihm sein Leben bis zum Ende zu vergällen und dann hätte ich noch immer genügend Material, um mich drei, vier anderen Fränzen zu widmen. Aber das durfte ich alles nicht. Denn es würde Franz zerstören, und ich wusste, dass ich meinen Hang zur Gemeinheit nie wieder in den Griff bekomme würde. Es würde eskalieren.
Franz brauchte Selbstbewusstsein, Geld, eine Frau, die freiwillig mit ihm Zärtlichkeiten austauschte. Ich überlegte lange, was ich ihm antworten konnte, aber auch das war schon ein Fehler, denn Franz empfand mein Schweigen als gerechte Folter. Gehetzt und glücklich blickte er mich an. Ohne Absicht war ich bereits in die Rolle des dominanten Herren getreten und Franz erfreute sich an meiner Grausamkeit. Ich musste diese Charade beenden, bevor sie sich zu etwas Krankhaftem auswuchs. Schließlich nickte ich und sagte: »Es ist wahrscheinlich am besten, du kaufst dir einen Hund, Franz.«
Für einen kurzen Augenblick war er verblüfft. Er schürzte seinen Mund, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Dann füllte sich sein Gesicht mit Ärger, mit Zorn, mit einer solchen Wut! Er schlug auf den Boden. Baxter schreckte hoch. Wie ein Giftzwerg sprang Franz in den Stand und zeigte mit dem Finger auf mich. »Einen Hund? Was soll denn das bringen? Glaubst du, es mangelt mir nur an unkomplizierter Liebe? Was wird denn schon groß besser mit einem Hund? Ein Magen mehr, den ich füllen muss, sonst nichts. So ein dummer Ratschlag, den du mir erteilst! Dumm, dumm, dumm! Ich hatte mir erwartet, dass du mich ansiehst und Stärken an mir entdeckst, von denen ich nichts gewusst habe. Und um diese Stärken herum die schönsten Geschäftsmöglichkeiten ersinnst. Aber ein Hund? Da merke ich doch, wie du mich verachtest!« Franz packte seine Weste.
»Ja, was hast du dir denn vorgestellt?« Ich versuchte es mit sanfter Stimme, um ihn zu beruhigen.
»Wenn du etwa gesagt hättest, Franz, geh hin und mach den Führerschein. Da hätte ich mir gedacht, was für eine teuflisch gute Idee, da wäre ich nie selbst draufgekommen. Ein Führerschein, der gäbe mir Gelegenheit, ein kleines Erfolgserlebnis zu bekommen und mich gleichzeitig Gesetzen und logischen Schlussfolgerungen zu unterziehen, die auch die einfachen Menschen im selben Maß berücksichtigen müssen. Ich wäre den Menschen nähergekommen und hätte wieder Vertrauen in mich gewonnen. Aber du kommst daher und ärgerst mich mit einem Scheißhund! Scheißhund! Scheißhund! Scheißhund! Ich könnte bluten vor Wut!«
»Ja, dann befehle ich dir halt, dass du den Führerschein machst. Mach den Führerschein!«
Franz hielt inne. Er rieb sich die Seite seiner Weste mit der flachen Hand. »Findest du?«