In unserer über 40-jährigen Freundschaft habe ich meinem Freund Franz sieben Mal das Bein gestellt und es war jedes Mal ein bewegender Moment.
Das erste Mal war es ein rein spontaner Entschluss. Ich dachte mir nichts dabei, es war kein Akt der Gehässigkeit. Es bot sich einfach nur so gut an, als Franz wild gestikulierend neben mir durch den Rathauspark schritt. Jeden Moment schien es mir, dass er umkippen musste, so weit wankte er erst in die eine, dann in die andere Richtung. Es machte mich nervös. Bald wird er hinfallen, dachte ich, bald fällt er hin und macht sich die schöne Lederjacke kaputt. Ich konnte nicht länger zuwarten, bis das Unvermeidliche eintrat, das war nicht gut für meine Nerven, also stellte ich ihm ein Bein und in einer wunderschönen Kapriole fiel er vornüber, rollte über den Kiesweg und krachte gegen eine Parkbank. Lachend streckte ich ihm die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen.
Das zweite Mal war es nicht mehr so arglos. Ich hatte mich mit Franz in seiner WG getroffen, um ein Referat zu besprechen. Gerade hatte ich ihm von meinem Entschluss erzählt, meine Abschlussarbeit über Hegels Beeinflussung durch russische Gesinnungsblätter zu schreiben. Ich hatte lange für diese Entscheidung gebraucht; kein Thema war mir ins Auge gestochen, nichts hatte mich begeistert, da war ich durch Zufall auf die wenig untersuchte Tatsache gestoßen, wie besessen Hegel seine Rezeption in Russland verfolgte. Ich war erleichtert. Endlich hatte ich mein Thema gefunden.
»Fantastisch!«, sagte Franz. »Das ist eine gute Wahl. Was für eine gute Wahl. So eine gute Idee. Darüber werde ich auch meine Abschlussarbeit schreiben.«
»Wir können doch nicht beide über Hegel schreiben. Was für eine Schnapsidee!«
»Ja was? Gehört der Hegel jetzt dir allein? Gehört jetzt alles dir? Muss ich dich fragen, wenn ich mir Schuhe anziehen will, nur weil du dir schon Schuhe angezogen hast?«
»Ich habe die Idee zuerst gehabt.«
»Welche Idee? Hegel hat doch die russischen Gesinnungsblätter gelesen, und nicht du. Du springst doch nur auf einen fahrenden Zug auf und gibst dich dann noch selbstherrlich als Lokomotivhitler. Manchmal weiß ich nicht mehr, ob ich dich wirklich kenne, Bruno.«
Es war nichts zu machen, schließlich wurde es mir zu bunt. Ich gab nach und verfasste meine Abschlussarbeit über den koreanischen Philosophen Jeong Mong-ju und sein standhaftes Herz. Franz schrieb seine, zugegebenermaßen durchaus brillante, Analyse über Hegels Gesinnungsblattkonsum und stürzte nach der Abgabe die letzten drei Stufen der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft hinab. Ich hatte es selber nicht kommen sehen, aber plötzlich war mein dünner Knöchel zwischen seinen Beinen gewesen und Franz kippte vornüber.
Das dritte Mal, als ich Franz das Bein stellte, war es glasklare unterbewusste Rache, da brauche ich nicht lange nachzudenken, und hatte mit Hilda, der älteren Schwester von Franz, zu tun. Sie war eine schroffe Schönheit mit einem dreckigen Humor, die sich aufrichtig freute, wenn man mit ihr ins Bett ging. Zu dritt hingen wir ab und wenn Franz betrunken am Tisch einschlief, zogen wir uns heimlich zurück, um es zu tun. Wir waren Fickkumpel, zwanglos trieben wir es miteinander, erst in unregelmäßigen Abständen, dann wurde es immer regelmäßiger. Mit der Zeit nahmen wir unsere Maßnahmen zur Verheimlichung recht locker, prompt erfuhr Franz von unserer sexuellen Annäherung und prompt reagierte er genauso, wie wir es befürchtet hatten, nämlich anfangs verstimmt und säuerlich, zunehmend aber bockig-aggressiv.
»Ihr fickt doch nur miteinander, weil es so am bequemsten ist«, murrte er.
Franz hatte recht, ich hatte es eben gerne bequem. In den nächsten Wochen wurde sein Murren immer lauter, aber ich hatte eine dicke Haut und ließ mich nicht schnell aus der Fassung bringen. Ich war immer so fröhlich, wenn ich mit Hilda fickte. Das hatte ich vorher nie gekannt. Da war immer nur Geilheit und Anspannung und verengtes Daseinsbewusstsein, aber Hilda legte größten Wert auf gute Laune im Schlafzimmer. Da wir keine Rücksicht auf Franz’ giftige Bemerkungen nahmen, entwickelte er nach und nach die ekelhaften Wesenszüge einer schwierigen Person. Seine galligen Eskapaden warfen einen Schatten auf unsere sexuellen Abenteuer. Nachdem es über zwei Monate so weiterging, stellte mich Franz eines Abends, als ich nackt aus dem Schlafzimmer kam, um mir in der Küche etwas zum Trinken zu holen, zur Rede. Er schnellte aus seiner vornübergesackten Position am Tisch hoch und blickte mich aus verzwickten Äuglein an.
»Entweder Hilda oder ich. Du musst dich entscheiden, Bruno!«
Ich kratzte mir verärgert die Schamhaare. »Schau zu, dass du wieder einschläfst, du bist gerade nicht zum Aushalten!«
Hilda kam langsam in die Küche, ebenfalls nackt. Sie lehnte sich halb gekrümmt an den Kühlschrank und putzte sich mit einem Ohrenstäbchen mein Sperma von den Brustwarzen. Aber Franz war nicht zu beruhigen. Er stand auf, mit hochrotem Kopf, und plärrte: »Was passiert, wenn ich mich jetzt auch nackt ausziehe? Ha! Was passiert dann?«
Hilda schnippte das Ohrenstäbchen in meine Richtung. »Das ist mir alles zu viel Tumult, Bruno. Du musst dich entscheiden. Entweder Franz oder ich!«
Jetzt war es an mir zu explodieren. Ich deutete abwechselnd von Hilda zu Franz und rief: »Das ist die verdammt selbe Entscheidung!«
Hilda kniff die Augen zusammen und ging ins Schlafzimmer. Sie warf die Tür zu und verriegelte sie lautstark.
Ich bastelte mir eine Decke aus Ausgaben der Arbeiter Zeitung und schlief auf dem Küchenboden. Am nächsten Tag schloss sich Hilda einer Truppe von deutschen Anarchisten an, die in Regensburg ein Haus besetzten. Dort lebte sie zwei Jahre lang, zog dann nach München, heiratete, wurde Witwe, zog ein Antiquitätenimperium hoch und wurde reich. Ich verlor den Kontakt zu ihr, abgesehen von der einen oder anderen schnoddrigen Postkarte, und Franz verlor das Gleichgewicht, als ich ihm eine Woche nach Hildas Abschied in der Waschküche das Bein stellte. Er fiel kopfüber in den Berg seiner dreckigen Wäsche, fand es zu seiner Verblüffung überraschend gemütlich und verbrachte dort den Großteil des restlichen Abends. Kiffend, sinnierend, Bierdosen schwenkend. Er schlief ein und wurde von der Haushälterin geweckt, als sie ihn mit ihrem Besen grün und blau prügelte.
Schon während des Studiums hatten wir zusammen in einem Fanzine veröffentlicht. Gelbe Sessel, eine lose Sammlung von Texten über Philosophie und Jazz, illustriert von bedrohlichen Bleistiftzeichnungen, die von einem wirren Pilzkopf publiziert wurde, Herbert Schaufel, der Jahre später ums Leben kam, als er in der Nacht des 23. Dezembers motiviert von Unmengen an Koks und Acid einen Weihnachtsbaum in einem Schlauchboot über den Mondsee transportieren wollte.
Das Magazin fand kaum Leser, über den engeren Freundeskreis der darin Veröffentlichten schaffte es keine nennenswerte Verbreitung, aber die Partys, die bei jeder Veröffentlichung geschmissen wurden, waren legendär. Halb Wien soff sich dort die Haare vom Kopf und mittendrin waren Franz und ich auf der Bühne, lasen unsere philosophischen Abhandlungen vom Blatt, während hinter uns eine Jazz-Rock-Combo kopflastigen Lärm verbreitete. Manchmal gesellte sich auch eine Sängerin zu uns, dann wurde Franz ganz unausstehlich. Er gierte nach jedem Funken Aufmerksamkeit und wenn er merkte, dass die Zuneigung des Publikums von unseren Texten weg zu der umfangreichen Soulstimme der Sängerin abdriftete, war er sich durchaus nicht zu schade, hinter der Sängerin böse Späßchen zu machen und ihre Bewegungen nachzuäffen. Es war an einem solchen Abend, dass ich große Lust bekam, meine Füße unter dem Lesetischchen auszustrecken. Franz fiel mit einem lauten Krachen in das Schlagzeug. Die Tschinelle hallte nach, ein Störgeräusch surrte, kurz war es still, dann toste Applaus.
Unsere progressive Show traf den Wiener Zeitgeist punktgenau. Die Mischung aus monotonem Jazzrock, Gedanken über Rock’n’Roll und Weltpolitik machte uns zu Szenestars. Wir waren Haussmann & Scheck. Man kann es sich gar nicht mehr vorstellen, aber wir sahen blendend aus für die damaligen Wiener Verhältnisse. Wir waren ein lässiges, fittes Duo. Wie Tony Curtis und Roger Moore zogen wir durch die braun verrußten Straßen der Stadt. Heutzutage sehen wir eher aus wie ein heruntergekommenes Stummfilm-Duo namens Dick und Tod. Eine unzufriedene Kugel mit Halbglatze, Brille und grauen, krausen Locken und ein ausgemergeltes Skelett mit langen schütteren Haaren, einst dunkelblond, nun weißlich-gelb wie meine Zähne. Ich hatte die Wahl zwischen würdevollem Altern und dem Rauchen. Da ich nicht mehr auf dem sexuellen Markt bestehen muss, fiel mir die Wahl leicht. Nun bin ich ein zufriedener Raucher und sehe eben aus, wie ich aussehe. Da gibt es nichts, um sich zu beschweren.
Unsere Auftritte waren legendär. Wir bekamen ein Angebot, unsere gemeinsame Kolumne für Gelbe Sessel ins Wiener Zeitgeistmagazin Basta zu übersiedeln. Man lockte uns mit Kokain, Geld und der Idee, die Kolumne mit Bildern von Manfred Deix zu illustrieren. Wir verzichteten auf Kokain und Deix und wollten lieber mehr Geld. Der Herausgeber fühlte sich dadurch irgendwie in seiner Ehre angegriffen und bot uns einfach noch mehr Geld an, als wir verlangt hatten. Er griff in die oberste Lade seines Schreibtisches und bewarf uns mit Tausend-Schilling-Scheinen. »Hahaha!«, rief er, als wir einschlugen. »Hahaha!« Als wir das Redaktionsgebäude verließen, schwieg Franz, sein Gesicht glühte, er wirkte auf eine Weise spirituell berührt. Er strahlte vor Glück und streichelte immer wieder die Tausend-Schilling- Noten in seiner Tasche. Im Stadtpark stellte ich ihm ein Bein, aber er bemerkte es gar nicht so richtig. Er rollte sich einfach im Schnee ab, richtete sich mit Schwung auf und ging weiter, beseelt und vergnügt. Er wusste es damals noch nicht, aber die Tatsache, dass es einen Tag von solch perfektem Glück gegeben hatte, an dem er sein restliches Leben messen konnte, war für Franz das größte Unglück gewesen.
Das sechste Mal, als ich Franz das Bein stellte, war während einer Live-Sendung des Club 2. Unsere gemeinsame Kolumnentätigkeit war zu diesem Zeitpunkt längst vorbei. Ich hatte sie nach zwei Monaten beendet, ich hatte es nicht mehr ausgehalten, meine Gedanken und Texte mit Franz synchronisieren zu müssen. Er sah sich als den eigentlichen Motor des Projekts, je mehr gute Gedanken ich vorschlug, desto lauter brachte er seine eigenen vor, bis mir die Zigarette aus dem Mund fiel vor lauter Lärm und Kopfschmerzen. Ich schrieb eine Zeit lang für das Wespennest und gestaltete Sendungen für die Musicbox, dann nahm ich Aufträge von ausländischen Zeitschriften an und wurde Professor.
In meinen neuen Texten ging es um Unmoral und Verkommenheit, ich sang Loblieder auf menschliche Defekte, predigte einen bedächtigen Zynismus und sinnierte über Tun und Leiden und Schuld und Schulden. Franz schrieb weiter an der Kolumne. Die politische Landschaft und die Musik änderten sich, doch Franz blieb beharrlich bei den Themen, die ihn berühmt gemacht hatten: Breschnew und Nixon, Stones und Zappa, Aristoteles und Tittenwitze. Basta wurde eingestellt, Franz veröffentlichte weiter in verschiedenen Zeitungen, alle zwei Jahre kompilierte er daraus ein Buch. Trotz unserer beruflich getrennten Wege funktionierten wir als Marke Haussmann & Scheck noch gut. Immer wieder wurden wir gemeinsam zu Vorträgen oder in Fernsehsendungen geladen, so auch diesmal zum Club 2 mit dem Thema Das Ende der Mündigkeit.
Franz hatte sich vor der Sendung schon einen kleinen Schwips angetrunken, den er live on air zu einem ordentlichen Rausch ausbaute. Gegen Ende hatte er Probleme mit dem Grundkonsens der anderen Gäste, der sich in dem Gespräch herauskristallisiert hatte und stand auf, um das Problem unkompliziert zu lösen.
Franz war gerade auf halbem Wege, um Axel Corti eine gewaltige Ohrfeige zu verpassen, da stieß ich blitzartig meinen rechten Fuß vor. Wenig elegant trat ich Franz gegen das Schienbein. Mit einem Aufschrei krachte er über den Tisch, fegte Aschenbecher und Dopplerflaschen zu Boden, und landete mit dem Kopf im Schoß von Hermann Nitsch, wo Franz vor Wut knurrte und, wenn er schon einmal da war, die – so er – köstlich nach Schnupftabak, Feigen und Harz duftende Schoßluft einsog.
Das siebte und bisher letzte Mal stellte ich Franz ein Bein bei meiner ersten Hochzeit. Während Graziella penibel die Hochzeit organisierte, plante ich ebenso penibel Franzens Sturz. Bisher hatte ich meistens spontan reagiert oder halb-spontan, weil mich der Gedanke vielleicht schon eine Woche zuvor überkommen hatte, bevor ich die perfekte Gelegenheit dazu fand. Aber diesmal sollte es mein Opus magnum werden. Es war nichts Persönliches, ich hatte zu der Zeit keinerlei Streit mit Franz am Laufen, es ging mir um das Werk an sich. Ich wollte Franz dabei zusehen, wie er in die Hochzeitstorte fliegen und das mehrstöckige Zuckerwerk, begleitet von einem Tusch der Hochzeitsband, zum Einsturz bringen würde. Um Graziella nicht vor den Kopf zu stoßen, hatte ich eine exakte Kopie der Hochzeitstorte anfertigen lassen, die eigentliche Hochzeitstorte, die in der Küche versteckt darauf wartete, die von Franz zerstörte Hochzeitstorte zu ersetzen.
Ich weihte die Band ein und übte am Tag davor mit einem Kellner gegen ein gutes Trinkgeld die verschiedenen Fallwinkel, um die optimale Stelle zu finden, um Franz das Bein zu stellen. Ich hatte mit meiner Planung ebenso Freude und Stress wie Graziella bei der Planung der gesamten Hochzeit. Als es dann so weit war, erhob Franz in letzter Sekunde erbost die linke Hand, ich konnte meinen Stellwinkel nicht mehr korrigieren und Franz fiel falsch an der Torte vorbei und schlug sich den Kopf am Tisch an. Er hielt sich den Kopf und jammerte laut auf seinem Platz, er jammerte über das Erdenleid, das ihm zuteil wurde, über die Intrigen rund um sein Lehramt, dass niemand seine Bücher kaufe, Hiob wäre Gustav Gans im Vergleich zu ihm, die jungen Frauen heutzutage wüssten nicht mehr, wie man einen Schwanz richtig bläst, sie kauten immer so lustlos rum wie auf einem benzingetränkten Putzfetzen, und jetzt auch noch diese Kopfwehen, oh, oh, oh! Er wurde immer lauter, weinte, schrie, hielt sich den Kopf, manche hielten ihn für eine schrecklich missratene Mitternachtseinlage, bis ich ihn damit tröstete, dass er die nunmehr unnütz gewordene zweite Hochzeitstorte ganz alleine essen dürfe. Wie ein Bub saß er einsam in der Küche und lauschte andächtig seinem lauten Schmatzen.