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Aneignung in der Disco Fritz

Ein Caspar Orlando Tuppy Abenteuer

Ich weiß nicht, was alle hatten, ich mochte meine Dreadlocks. Sie erinnern mich an eine Zeit, in der ich das Gefühl hatte, ich könnte noch einmal neu anfangen. Als wäre mein Leben nicht vorgezeichnet, abgehakt, unausweichlich. Ich hatte etwas Neues entdeckt: Reggae, Dancehall, Ragga, Melodien und Bass statt Theorie. Eine wunderbare Gelegenheit, um einer sich ankündigenden Post-Midlife-Crisis auszuweichen, dem Teufel mit Musik ein Schnippchen schlagen. Kopfüber stürzte ich mich hinein. 
Es war mein Neffe Bernhard, der mich in die Schönheit dieser Musik einführte. Meine Schwester war in einem rabiaten Scheidungskampf mit ihrem Mann komplett zerstört worden. Sie hatte die Nerven weggeschmissen, sie war am Ende, heulte, torkelte durch die Wohnung. Aber sie war nicht zu kaputt, um zu sehen, wie ihr 17-jähriger Sohn durch die im Ehekrieg aufgeschwemmte Fäulnis verstört wurde. Führungslos flüchtete er sich in schwere Cannabinoide und Schlägereien. Aber ich mochte ihn. Seine Mutter bat mich, gelegentlich nach ihm zu sehen, eben weil ich gut mit ihm konnte, und damit er wenigstens den Hauch eines positiven männlichen Role Models hatte, während sie in einem Berg von Taschentüchern versank. Für mich war es eine gute Gelegenheit, weniger Zeit mit meiner zweiten Frau verbringen zu müssen, ohne dass sie mir Vorhaltungen machen konnte. Sich um den Neffen kümmern? Da gab es nichts, woraus sie mir einen Strick drehen konnte. Theodora spürte natürlich, dass da was faul dran war, sie stand in der Küche, mit verschränkten Armen, einen Bacardi auf dem Tisch, und sah mich aus zugekniffenen Augen an. 
Ich hatte mich immer gut mit meinem Neffen verstanden, und es sollte nicht lange dauern, bis er Zutrauen zu mir fasste. Gleich am Anfang gelang mir ein Glückstreffer. Auf seine brennendste Frage, warum das Leben so schmerzte, konnte ich ihm ohne Umschweife antworten: Das lag daran, dass sein Vater ein Trotteldepp sondergleichen war, und seine Mutter nicht gerade helle. Da ging ihm ein Licht auf. Von der Seite hatte er es noch nie betrachtet. Immer hatte er sich die Schuld gegeben oder den Frauen. Ein Knoten löste sich in seiner Brust. 
Stundenlang saßen wir in seinem Zimmer und philosophierten über Gott und die Welt. Um den guten Draht nicht abzuknipsen, drückte ich ein Auge zu, wenn es um seinen rigorosen Drogenkonsum ging. Sein Leben drehte sich um seine Plattensammlung, seine Drogen und Gewaltvideospiele. Ich versuchte, seine Perspektive zu erweitern. Erst probierte ich es mit Jazz. Ich dachte, diese Mischung aus Struktur und Freiheit könnte ihm helfen. Aber für jedes klassische Jazzstück, das ich ihm vorspielte, antwortete er mit einer elektronischen Reggae-Nummer, die bei gleicher Melodiösität um vieles wuchtiger war. Das ging so ein paar Mal hin und her, bis ich zugeben musste: Er hatte Recht. Was war der Jazz denn für ein großbürgerliches, spießiges Musikantenwerk. Das Leben war doch kein Arthouse-Movie. Nein, das Leben war aufregend. Die Mischung aus den entspannenden Melodien des Reggaes und der Aufgewühltheit moderner elektronischer Möglichkeiten ließen etwas ganz großes entstehen: etwas Pulsierendes, etwas Aufreibendes, das einen mitten ins Herz traf und von dort aufregende Blitze Richtung Füße schickte. Der warme Bass schenkte mir Glück, die Beats ließen mein Tanzbein zucken und das Gerappel und das Gesinge ließen mich jubilieren. 
Noch schöner war es mit Bernhard mitzugehen, wenn er als DJ Ganja Man in Diskotheken auflegte. Wie er da mit seinen Discjockey-Sets das Publikum zum Tanzen brachte. Unglaublich. Das war ganz anders als das pikierte Opern-, Theater- und Vernissagenpublikum. Die jungen Männer und Frauen waren dreckig, dirty, so etwas hatte ich noch nicht erlebt. Zerfetzte Strumpfhosen, bekleckerte rote Miniröcke, verfilzte Haare, niedergerauchte Zahnreihen, die Leute rochen auch so komisch, auch die Mädchen, erdig, muffig – ich erlebte eine Offenbarung. Das war wirkliches Anti-Establishment. Nicht Künstler, die gutmütige Menschen ohne Bezahlung nackt auf die Bühne stellten, nein, dieser Keller aus muffigen Freaks, denen der Schweineatem aus den Achseln wehte. Zu der Zeit hatte ich noch die Hoffnung, dass meine Einnahmen bald wieder auf das alte Niveau steigen würden. Es war mir also ein leichtes, innerhalb weniger Wochen eine Plattensammlung zusammenzustellen, die größer und imposanter war als die meines Neffen. Ich bestellte mir die rarsten Scheiben um ein Schweinegeld. Bernhard platzte vor Neid, und rauchte gleich viel mehr in meiner Gegenwart. Aber leihen, geschweige denn schenken wollte ich ihm meine guten Platten auch nicht. Das wäre die falsche Botschaft gewesen. Außerdem ließ ich sein Fachwissen bald hinter mir, musste ihn immer öfter ausbessern, manchmal wunderte ich mich direkt über die weiten Flächen seines Nichtwissens. Das konnte man doch alles nachlesen, dachte ich. Wenn man wirklich dafür brannte, musste man das doch wissen. Aber ich bot ihm an, mit ihm zusammen aufzulegen. Dann könnte er von meiner Plattensammlung auch so profitieren – ganz ohne lästiges Herumgeborge. Zusammen würden unsere DJ-Sets besser werden, die gute Qualität würde sich herumsprechen. Wir würden in größere und besser bezahlte Locations wechseln. Das Publikum immer mehr werden. Ich hatte fantastische Pläne. Aber Bernhard war nicht mit dem Herzen dabei. Er zögerte. Er hätte sich mit voller Wucht hineinschmeißen müssen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Gut, unsere ersten Auftritte waren vielleicht anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Es war zu eng in der DJ-Kanzel und ich war Bernhards schnelle Bewegungen nicht gewöhnt. Oft stießen wir zusammen, oder ich kramte gerade in der Plattenkiste und er fiel über mich oder ich verlor einfach nur so das Gleichgewicht und musste mich auf dem Plattenteller aufstützen. Das Publikum war verwirrt. Ich hätte so etwas mit Humor genommen, aber lustig fand das keiner. Im Gegenteil, sie reagierten mit einem Snobismus, den ich bei solch verranzten Randtypen nicht für möglich gehalten hätte. Wenn ich die Plattenteller verließ und Richtung Bar ging, wichen sie meinen Blicken aus. Und trotzdem hätte Bernhard sich da nicht aus dem Konzept bringen lassen sollen. Aus der Kunstszene wusste ich, dass man sich mit Beharrlichkeit Respekt verschaffen konnte. Einfach stur an seinem Konzept dranbleiben und nach und nach würde der Widerstand erschlaffen. Die Leute würden andere, schrecklichere Sachen finden, gegen die sie sich zur Wehr setzen wollten, und dann war da plötzlich eine Lücke in die man stoßen konnte. Ehe es sich die Leute versahen, war man eine Institution geworden, niemand hatte mehr die Kraft, einen wieder hinauszuekeln. 
Aber Bernhard ließ sich entmutigen. Von den unfreundlichen Blicken, von den Absagen fix ausgemachter Gigs, von seinen Freunden, die ihn fragten, was das denn solle. Er wurde sogar so weich, dass er mich bat, ihn nicht mehr zu seinen DJ-Auftritten zu begleiten, aber da hatte er sich den Falschen ausgesucht. Aus meinen zwei Ehen und vielen Beziehungen wusste ich, wie man jeden mit fulminant aggressiver Passivität zu Boden zwingen konnte. Ich redete dagegen, ich machte ihm Vorwürfe, ich sagte ihm, dass ich nicht mehr wüsste, was tun, wenn man mir das auch noch wegnähme. Bernhard meinte, es handle sich mittlerweile um einen sehr boshaft einschneidenden finanziellen Verlust, den er durch mich erlitt, aber das lachte ich einfach beiseite. Kurzfristig galt es durchzutauchen, sagte ich ihm, bevor das große Geld kommt. Er hörte mit den Gegenreden auf, wurde stiller, auch bei unseren Auftritte stand er mit wächsernem Gesicht herum. 
Meine weißen langen Haare flocht ich nun zu prächtigen Dreadlocks zusammen. Da sich Bernhard diesbezüglich mir verweigerte, lernte ich bei einem 13-jährigem die Technik des Plattenauflegens. Übergänge, Beats abzählen, richtiges Ein- und Ausfaden. Sogar die Kunst des Scratchens brachte er mir bei. Nicht, dass ich mit meinen Fähigkeiten großen Eindruck in Brooklyn machen konnte, aber für eine überraschende Einlage im donnerstäglichen Beanie Club in der Disco Fritz in Wiesbaden reichte es allemal. 
Bernhard zog sich zurück, aber ich machte noch mehr Druck. Ich wollte ihm zeigen, dass man dranbleiben musste. Ohne Einsatz kein Erfolg! Wenn ein Veranstalter nicht auf meine E-Mails reagierte, dann stand ich eben kurz darauf in seinem Büro und hielt ihm einen Vortrag. Nicht, dass es half. Um den Wegfall seiner mageren, aber konstanten DJ-Gagen zu ersetzen, begann Bernhard zu dealen. Bisher hatte er für einen erweiterten Freundeskreis Dope besorgt, mehr aus Nettigkeit, denn aus Profitgier. Dann kaufte er bei seiner Quelle immer mehr und mehr ein, erweiterte den Personenkreis, an den er den Stoff verklickerte, er expandierte zu schnell, aber er war eben überwältigt, wie viel Geld er damit machen konnte. Er wusste gar nicht mehr, wo er die Scheine in seinem Zimmer noch verstecken sollte. Dann flog er auf, wurde verhaftet mit einem Kofferraum voll Shit and Money und wanderte ins Gefängnis. Er konnte seine Gefängnisstrafe großzügig verringern, in dem er seinen Dealer verriet. Deshalb ging er nur für zwei Jahre ins Gefängnis, wurde aber jeden Tag grün und blau geschlagen. Ich besuchte ihn ein paar Mal, aber er war in meiner Gegenwart recht maulfaul geworden. Vom angeregten Diskutieren über Gott und die Welt war nichts mehr zu spüren, sein verprügeltes Gesicht machte mich traurig, bald stellte ich meine Besuche ein. Meine Schwester wurde auch immer mühsamer. Irgendwie war ihr die absurde Idee gekommen, mein Einfluß hätte Bernhard in das Gefängnis gebracht. Dass ich nicht lache, sagte ich ihr, wie oft war ich denn schon im Gefängnis gesessen? Null mal, keinen einzigen Tag. Und Bernhard? Für zwei Jahre. Wenn sich da jemand vor einem schlechten Einfluss fürchten müsse, dann wohl ich. Aber so war eben meine Schwester: schwach, arm, beschützenswert und nicht ganz so gescheit wie sie es im Leben benötigte. 
Zuhause lief es bei mir auch nicht rund. Um ohne Furcht schlafen zu können, musste ich in ein eigenes Schlafzimmer umziehen. Mehrmals war ich in der Nacht aufgewacht – rechtzeitig zum Glück –, als sich Theodora mit einer Schere an meinen Filzlocken zu schaffen machte. 


Mehr Abenteuer von Caspar Orlando Tuppy gibt es in: 

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Triumph des Scheiterns 
von Peter Waldeck
 256 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag,
Fadenheftung, Leseband
€ 24.00
ISBN 978-3-903184-42-8
Erhältlich in einer Buchhandlung in Ihrer Nähe